Die Zukunft des Coaching-Business – Neuausrichtung an der Lebens- und Arbeitswelt des Klienten von morgen

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Wie verändert sich das traditionelle Verständnis von Coaching? Wie kann Coaching auch zukünftig Leadership unterstützen? Mit Fragen wie diesen beschäftigt sich Stefan Stenzel in seinem Buch. Mit seiner langjährigen Erfahrung als Senior Expert Consultant Global Management Development bei SAP sowie einem fundierten Fachwissen stellt er Handlungsmöglichkeiten für Führungskräfte und Coaches vor, um die Herausforderungen von morgen zu meistern.

Die einzelnen Kapitel sind mit den immer gleichbleibenden Fragen nach den Konsequenzen für den (a) Klienten/Coachee, (b) den Service „Coaching“ sowie (c) den Coach selbst und seine Tätigkeit untergliedert. Das mutet etwas schematisch an, hilft aber.

Die zentralen vier Kapitel thematisieren dabei die Veränderungen in den Bereichen Technologie (Digitalisierung und Big Data), Demografie bzw. Soziologie, (Sozial-)Psychologie gesellschaftlicher Entwicklungen sowie die Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen. Im 5. Kapitel geht es um Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching) – ein inhaltliches Querschnittsthema.

Fast alle Inhalte fokussieren die Veränderungen der letzten Jahre, die für das Coaching-Business in der Zukunft einen Unterschied machen werden. Da das durchweg stark faktenbasiert geschieht, hat der Leser jedoch zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, dass sich der Autor nur seinen persönlichen Gedankenspielen oder gar Phantasien hingibt.

Am augenscheinlichsten werden die Unterschiede wohl bei den technologischen Veränderungen. Stenzel zeigt anhand vieler Beispiele, wie etwa Chatbots bzw. Coachbots oder Wearables (kleine Computersysteme, die direkt am Körper getragen werden) Coaching beeinflussen könnten und welche Kompetenzen sich ein Coach aneignen muss, um den Ansprüchen der nächsten Klienten-Generation gerecht werden zu können. So müssen Coaches etwa lernen, die Daten für die Klienten und Klientinnen zu interpretieren bzw. für die Evaluation oder die bessere Validierung ihrer eigenen Arbeit zu nutzen.

Auf neue Arbeitsfelder für Coaches verweist Stenzel im Kapitel zu den demografischen bzw. soziologischen Gesellschaftsveränderungen. Bezogen auf das Alter bzw. die Generationen bedeutet dies im Falle der ausscheidenden Babyboomer für Coaches zum einen eine potenzielle Verringerung der Coachingnachfrage aus den Unternehmen. Zum anderen könnten sich dadurch neue Themenfelder im Bereich Senioren-, Silver-Ager- oder Start-up-Coaching für den Übergang in den „Unruhestand“ auftun.

Der Autor diskutiert das individual- aber auch sozialpsychologische Phänomen des Lernens, das durch die zunehmende Digitalisierung (z. B. Lernen mit Social Media, Virtual-Reality-Brillen) und dessen Folgen (z. B. Aufmerksamkeitsspannen, Lernen über Bilder) beeinflusst wird. Zum Erwerb von konzeptionellem und praktischem Lernen über die Umwelt rückt die technische Wahrnehmung bzw. Vermessung der Innenwelt, d. h. der eigenen körperlichen und geistigen Vorgänge mittels Wearables, für immer mehr Menschen ins Zentrum des Interesses. Damit einher gehen Aspekte der personellen, räumlichen und zeitlichen Entgrenzung oder sogar die Gefahr der Selbstentfremdung hinsichtlich der individuellen Lebensführung. Die zur erfolgreichen Bewältigung permanente, bewusste „(Meta-)Steuerung der Steuerung“ erfordert eine „reflexive Lebensführung“ und umfasst die potenziell damit einhergehende Belastung oder gar Überforderung des Menschen. An den Klienten und den Coach stellen sich damit enorme Anforderungen des Neu-, Um- oder Verlernens hinsichtlich des Lernprozesses selbst, sowie der (Selbst-)Wahrnehmung und der Selbstregulation.

Auch mit den für das Coaching als relevanten Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen befasst sich der Autor. Dabei widmet er sich auch dem Geschäftsmodell der Plattform. Denn als „Digital Coaching Provider“ (DCP) mischen sie durch ihr gänzlich neuartiges Distributionsmodell für Coaching-Leistungen den Coachingmarkt für alle Beteiligten hinsichtlich der Honorare, Qualitätsdefinition und Evaluationsmöglichkeiten (insbesondere für Großkunden) kräftig auf. Für die meisten Coaches bislang eher nicht wahrnehmbar ist die stetig voranschreitende Digitalisierung von HR-Prozessen (auch durch KI) in immer mehr Unternehmen. Da dies die Rolle der Führungskraft selbst maßgeblich beeinflussen wird, tun Coaches gut daran, diese Entwicklungen zumindest aufmerksam zu verfolgen.

Gleiches gilt auch für die trotz Fachkräftemangel zunehmenden (a-)typischen, und auch befristeten Beschäftigungsverhältnisse mit zukünftig wahrscheinlich nur sehr vagen Stellenbeschreibungen. Der „Coach als Lernbegleiter“ bekommt perspektivisch dadurch eine vollkommen neue Bedeutung – sofern er sich den damit verbundenen, teilweise neuen Anforderungen stellt. Das bisherige „Karriere-Coaching“ greift nicht mehr und wird durch ein permanentes „Job-Sculpting“ oder „Work-Design“ ersetzt. Um die zukünftigen Anforderungen an Führung und damit auch das Coaching zu skizzieren, entwickelt der Autor eklektisch – aber deshalb nicht wenig originell – ein integratives Leadership-Modell, welches ambidextrisches Handeln als den Kern von Führung sieht.

Geradezu als Imperativ für die kommenden Veränderungen sieht Stenzel in ethische Überlegungen. Als Herausforderung für alle Beteiligten identifiziert er dabei die teilweise massive Überlegenheit von KI-Systemen gegenüber dem Menschen (z. B. Geschwindigkeit, Genauigkeit, Ausdauer etc.), deren zunehmende Menschen-Ähnlichkeit in der Interaktion (z. B. Dialogverlauf, Stimme, situative, „emotional“ angemessene Reaktionsweisen etc.) sowie die Fragen der gewährten Autonomie im Falle der sogenannten „starker KI“. Das Buch gibt einen ersten Impuls, darüber wieder und neu nachzudenken, was den Menschen ausmacht und uns neu zu entdecken in all unserer Vielfalt und Ambivalenz (die der KI zumindest heute noch nicht innewohnt).

Ganz Systemiker begibt sich Stefan Stenzel im letzten Kapitel wieder auf ihre Makroebene – betrachtet die Rahmenbedingungen für die potenziellen Veränderungen im Coachingfeld „von oben“. Er reflektiert im Bewusstsein von eventuell heraufziehenden „schwarzen Schwänen“ sowie von Szenario-Analysen zu Digitalisierung, Arbeit und dem Arbeitsmarkt in Deutschland die Realisierungsmöglichkeiten und -varianten möglicher Zukünfte des Coaching-Business – denn es könnte eben letztlich auch alles ganz anders kommen!

Mit der stringenten Struktur, den rund 70 Schaubildern und unzähligen Links, der soliden konzeptionellen Fundierung und der Ergänzung durch eine Webpage (www.coaching-reset.de) ist das Buch eine inhaltliche Bereicherung und Inspiration und rechtfertigt den recht stolzen Preis.

Daher eine klare Empfehlung für Leser, die offen für neue Perspektiven sind und sich gerne überraschen lassen – also (hoffentlich) eigentlich für jeden Coach oder Coaching-Interessierten.

Stefan Stenzel: Die Zukunft des Coaching-Business – Neuausrichtung an der Lebens- und Arbeitswelt des Klienten von morgen. Wiesbaden:  Springer Gabler. 2022. 61 Euro

 

Professorin Dr. Monika Zimmermann. Diplom-Erziehungswissenschaftlerin, Promotion in Erziehungswissenschaften, Professorin an der Internationalen Berufsakademie (iba), Inhaberin Zentrum für interdisziplinäres Coaching, Systemische Beraterin, Senior und Lehr-Coach in Heidelberg

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